Mittwoch, 2. März 2016

9. An dich

     
 Auch wenn du gehst
Bleib ich hier
Starre in die Welt
Starre zu dir
Erhoffe mir einen Blick
Einen Blick von dir
Doch einzig was ich bekomm
Ein kühler Hauch
In mir

7. Ballonfahrt


Von hier oben kann ich alles und jeden sehen. Dich habe ich bestimmt auch schon einmal gesehen. Deinen Kopf hältst du stets gesenkt, nie schaust du nach oben. Sonst würdest du mich sicher auch sehen. Ich habe mich in den Ästen eines großen Baumes an der Mühlenstraße verfangen. Der kleine Junge, dem ich um sein Handgelenk gebunden wurde, hat mich losgelassen und ich konnte endlich fliegen. Doch da war dieser Baum im Weg, sonst wäre ich immer weiter, immer höher hinaus geflogen. Und jetzt, nun jetzt habe ich mich eben hier verfangen. Doch die Äste sind trocken und spitz und bohren sich in meine dünne Haut. Irgendwann wird all meine Luft verschwunden sein und was zurück bleibt ist eine leere Hülle Ich wünschte ich wäre nicht so alleine hier oben. Ich wünschte ich hätte jemanden mit dem ich die Menschen da unten zusammen beobachten könnte. Aber im Moment leeren sich die Straßen sowieso, es beginnt zu dämmern. Hin und wieder überquert jemand mit schnellen Schritten die Straße. Sei es ein kleiner Junge mit verwuscheltem Haar oder eine alte Dame mit ihrem Hund. Schaue ich jetzt nach unten sehe ich ein älteres Paar immer näher kommen. Ihre Schritte sind langsam, aber vorsichtig. Beide lächeln vor sich hin und halten sich an den Händen. Ich ändere meine Position, rutsche mehr nach vorne, um besser sehen zu können. Und da höre ich das Geräusch, das Ratschen und das Pfeifen entweichender Luft. Doch ich achte nicht darauf, das Pärchen ist viel spannender. Viel herzerwärmender . Ach, hätte ich doch nur ein Herz, es würde sicher viel schneller schlagen. Ach, wäre ich doch nur nicht so allein. Ich wünschte ich wäre nicht allein hier oben. Die Äste bohren sich wie spitze, dürre Finger in meine Haut und ich verliere endgültig meinen Halt. Das Pärchen zieht vorüber, raus aus meinem Blickfeld und die Äste rauben mir meinen letzten Atemzug…

6. Was ist der Tod bloß für ein Wesen?



                

Was ist der Tod bloß für ein Wesen, das dich auch aus dem Leben reißt?

So schmerzlos leicht wie ein Windhauch an deiner Wange oder doch so beängstigend schmerzhaft wie ein Stich im Herzen. Kurz bevor der Tod dir seinen Geist ei haucht und du deinen letzten Atemzughast, da, sagen sie, zieht dein ganzes Leben vor deinem geistigen Auge vorbei. 

Doch was siehst du dann? Die Trauer einzelner Tage, deine Zweifel, deine Wut auf verlorene Ziele oder siehst du doch die schönen Momente, das Lachen und Weinen verbunden mit schönen Erinnerungen und dein vor Aufregung zerberstendes Herzklopfen?

Du siehst all das, was jetzt verloren scheint und das du hoffst eine Erinnerung wert zu sein. Denn wenn deine Lebenszeit schließlich abgelaufen ist, ist es das woran du festhältst, als Erinnerung in den Köpfen der Menschen zurück zu bleiben.                             

5. Pain stays

Das heiße Wasser fließt an meinem Körper entlang. Es spült all die Sorgen von gestern Nacht weg und zieht sie mit sich in den Abfluss. Widerwillig stelle ich das Wasser ab und trete auf die kalten Fliesen. Ich greife nach einem Handtuch und tupfe mich ab. Einen kurzen Blick werfe ich in den Spiegel, doch dann wende ich mich schnell wieder ab. Ich stelle mich mit geschlossenen Augen vor den Spiegel meines Badezimmers. Meine Augen fangen schon an zu schmerzen, so fest kneife ich sie zu. Es ist jetzt Wochen her, seit ich mich das letzte Mal selbst im Spiegel betrachtet habe. Den Anblick meiner Selbst ertrage ich nicht. Ich drücke meinen spitzen Fingernagel in meinen Arm, sodass der Schmerz viel zu groß wird und ich laut aufschnappe und dabei meine Augen sofort aufreiße. Erneut ringe ich nach Luft, als ich mich im Spiegel betrachte. Die Spuren der Vergangenheit lasten noch immer auf mir.
Mit einem Finger zeichne ich die Konturen meines Schlüsselbeins nach. Ich gelange zu meinem Hals, wo ein großer, blauroter Fleck zu erkennen ist. Mit leichtem Druck tippe ich auf dem Fleck herum und schlagartig durchfährt mich ein stechender Schmerz. Ich zwinge mich trotz des Schmerzes die Augen aufzulassen, um weiterhin meinen Körper betrachten zu können. Meinen Blick wende ich von meinem Hals ab und betrachte meine Arme. Die tiefen Schnitte der Klinge sind noch klar erkennbar. Ich würde sehr viel Make Up benötigen , um all diese Spuren zu verdecken. Ich könnte einen neuen Start als eine andere Person wagen.
Mit einem schnellen Ruck öffne ich mein unter den Achseln befestigtes Handtuch und höre wie es auf die Fliesen fällt. Schlagartig durchfährt mich ein Zittern und Gänsehaut bildet sich auf meinem Körper. Ich denke daran später mal unsere Heizung einzuschalten, doch jetzt gewöhne ich mich so langsam an die kühle Luft auf meiner Haut. Es hat mich schon immer eine große Überwindung gekostet mir meinen Körper anzusehen. Doch je länger ich ihn anstarre, werde ich das Gefühl nicht los, dass dieser Körper doch gar nicht so schlecht scheint. Natürlich hat er nichts von den Figuren der anderen, schöneren Mädchen aus den Zeitschriften. Und doch ist da was, was mich nicht den Blick abwenden lässt. Vielleicht sind es die schon fast verblassenden Flecken auf meinen Ober- und Unterschenkeln oder die schon verheilenden Schnitte an mir.
Es scheint so, als wären mehrere Minuten oder gar Stunden vergangen, seitdem ich mich vor den Spiegel gestellt habe. Vielleicht warte ich darauf, dass etwas passiert und ich meinen wahren Körper sehe. Denn vielleicht bilde ich mir auch nur diesen Körper ein. Vielleicht sind diese Gedanken wieder da, dieser Wunsch, so zu sein wie es alle sind. Wie alle mich wollen. Ihren Körper, ihr Gesicht, ihre Schönheit, ihr Alles auch an mir zu sehen. Doch nie, nie wurde mir dieser Wunsch erfüllt. Nur der Schmerz des unerfüllten Wunsches wächst von Tag zu Tag. Doch nichts, was gestern war kann ich zurück lassen. Es verweilt auf mir, hat seine Spuren tief in und auf mir hinterlassen. Und jeder der mich kennen lernt wird den Schmerz sehen, nicht nur durch die Schnitte auf meinen Handgelenken, sondern auch in meinen Augen. Denn dieser Schmerz ist nicht abzuhängen, nicht zurückzulassen. Er verweilt in mir.


Das Wasser grummelt laut in den Rohren. Mein Kopf dröhnt immer noch, obwohl eine heiße Dusche immer meine Migräne milderte. Ich fühle mich wie weggetreten. Alles verschwimmt vor meinen Augen, bunte Lichter blitzen auf und hier und da spüre ich ein sanftes Kribbeln in mir. Unwissend, woher all diese Wahrnehmungen stammen, trete ich aus der Wanne und werfe mir ein Handtuch über. Ich starre auf meine Wand, dort sehe ich noch die Abdrücke des Spiegels, den die Mieter vor mir hängen hatten. Diese Stelle würde bei mir kahl bleiben, einen Spiegel hat bei mir nichts zu suchen. Vielleicht würde ich ein Porträt von einer hässlichen Gestalt hinhängen, die mich jedes Mal, wenn ich aus der Wanne steige amüsiert auslacht. 

4. In Sicherheit

Kurz vor zwölf hält der Zug an einem unterirdischen Bahnhof an. Seine Lichter flackern im Dunkeln und die schweren Türen gehen auf und in mein Abteil schleicht sich ein modriger Geruch ein. Mit zittriger Hand wische ich mir bestimmt meine letzte Träne weg, schultere meinen Rucksack und trete aus dem Abteil in den Flur des Zuges und von dort setze ich meinen Fuß auf den Boden des Bahnhofs. Sofort ergreift mich eine beißende Kälte, die sich bis in meine Knochen festkrallt. Ich schüttle mich kurz und lasse dabei fast meinen Rucksack fallen. Vor Schreck drücke ich den Rucksack fester an mich und gehe noch einen Schritt vom Zug weg. Erstaunt blicke ich die leeren Ecken des Bahnhofs, der mir wie verlassen und unbenutzt vor kommt. Selbst wenn ich hier und da etwas Müll liegen sehe. Seien es Zigarettenstummel, Papier oder einfach nur Dreck, der in den Ecken sitzt. Die Türen des Zuges schließen sich geräuschvoll ohne jemanden heraus zu lassen und mit einen Quietschen setzt sich der alte Zug in Bewegung. Nun bin ich allein. Niemand, der auf mich wartet, der mich abholt oder mir den Weg zum Weitergehen weist. Erschöpft von der Kälte, die mir immer noch den Atem raubt, schreite ich voran. Das einzige Geräusch, was ich höre ist mein Atem und meine leisen Schritte, die auf dem Bahnhofs Boden widerhallen. Kaum finde ich den Ausgang aus dem Bahnhof heraus stemme ich meinen müden Körper die nie enden wollenden Treppen hinauf und blinzle ich die mit Sternenbesetzte Dunkelheit. Der Bahnhof ist frei von Menschen und von Autos. Ich stelle meinen Rucksack auf den Boden ab und atme tief ein, auch wenn sich so die Kälte noch tiefer in meinen Körper setzt. Meine Kapuze ziehe ich tiefer und schnüre meinen Schal enger. Es gibt kein Entkommen vor der Kälte. Sie ist überall und findet jeden. Nicht einmal bewohnbare Häuser gibt es hier. „Wo bin ich hier nur gelandet?“, seufze ich. Wie aus dem Nichts ertönt ein Klingeln und bringt die kalte Luft zum vibrieren. Aufgebracht schaue ich mich um, bevor ich bemerke, dass das Klingeln von meinem Handy stammt. Mit zittrigen Fingern krame ich es hervor und schaue auf den hell aufflackernden Bildschirm. Unbekannte Nummer. Erneut blicke ich mich um. Niemand ist da und ich beschließe dran zu gehen. „Hallo?“, sage ich und warte auf eine Antwort. Doch auf der anderen Seite der Leitung höre ich nichts. Komisch, denke ich mir. Verwirrt lege ich auf und schaue mich um. Immer noch niemand zu sehen. Ich hebe meinen Rucksack, schultere ihn und mache einige Schritte auf die Bushaltestelle zu. Urplötzlich höre ich ein schwaches Rascheln und meine ein leises Flüstern wahrzunehmen. Ein Zittern durchfährt mich. Bin ich also doch nicht alleine? Meine Schritte werden immer schneller, bis ich anfange zu laufe, selbst wenn ich nicht weiß, wovor ich mich flüchte. Nach hinten drehe ich mich auch nicht aus Angst etwas Fremdes zu erblicken. An der Haltestelle angekommen drehe ich mich ganz langsam nach hinten rum. Nichts. Ich muss alleine sein, woher sollte denn das Flüstern sonst kommen? Die Müdigkeit spielt mir wahrscheinlich nur einen Streich. Ich lächle in mich hinein und schaue wann mein Bus nach Hause kommt. 
Noch 5 Minuten. 
Ich trete vom einen zum anderen Fuß, werde immer unruhiger. Es sind nur 5 Minuten, sage ich mir immer wieder. Kurz schließe ich meine Augen und als ich sie wieder öffne meine ich einen Schatten gesehen zu haben. Einen kleinen, der an der Wand herum huschte. Blödsinn! Und da, wieder das Rascheln und das Flüstern. Leise, unverständliche Wörter und Schritte, die immer näher kommen. Näher und näher, sie werden lauter. Immer lauter. Doch ich kann niemanden erkennen, niemanden der sich nähert. Ich kneife meine Augen so fest zusammen, dass es weh tut. So als würde man mich nicht mehr beachten, so mit geschlossenen Augen. Doch ich bin noch da. Ungeschützt. Alleine. Ich schnappe nach Luft und öffne meine Augen, als ich mich etwas am Arm streift. Schon wieder der Schatten. Mein Herzschlag beschleunigt sich und mein Atem wird schnappend. Ich beschleunige meine Schritte, weiter weg von der Haltestelle auch wenn der Bus jeden Moment kommen müsste. Irgendwas ist hier. Ich sehe wie sich der Bus mir nähert, mein Blick trifft den des Busfahrers. Er ist leer. Der Schatten erscheint erneut und nähert sich mir mit schnellen Schritten und diesmal sehe ich den Umriss deutlicher. Der Busfahrer scheint mit der Öffnung der Tür zu zögern. Ich hämmere mit der Hand gegen die Tür. Die Angst vor dem Ungewissen scheint mich zu zerfressen. Dann als ich den Schatten genau hinter mir spüre, öffnet sich die Tür und ich stürme ins Warme des Busses. Kurz nachdem sich die Tür schließt drehe ich mich um und blicke in grellrote Augen. Augenblicklich danach sind sie verschwunden, doch das braucht mich jetzt nicht mehr zu interessieren.                       Denn ich bin jetzt in Sicherheit…

Dienstag, 19. Januar 2016

3. Nur einen Wimpernschlag entfernt



Levin ist kein Freund. Er ist kein Junge, den man zum Fußballspielen anruft, noch jemand der dich ohne Grund zu sich nach Hause einlädt. Wenn er denn überhaupt jemals jemanden zu sich einlädt. Levin ist jemand, der viel kann. Und das ist nicht einfach so dahin gesagt. Levin hat viele verborgene Talente und die kennt er alle und versucht sie zu pflegen und auszubauen. Aber es sind eben alles Dinge, die Levin allein machen kann. Allein und bei sich zu Hause, wo ihn niemand sehen kann. Niemand außer mir. Ich bin übrigens Cora. Aber ich bin jetzt nicht so wichtig, wie es Levin ist. Denn über Levin hat bis jetzt noch niemand etwas geschrieben. Er glaubt, dass er nicht wahrgenommen wird, dass er nur trostlos wie ein Geist umher wandelt und sein Leben für sich selbst lebt. Doch da irrt er sich, täuscht sich gewaltig. Er wird wahrgenommen, er kann nicht durch Seelen hindurchgehen ohne eine Spur zu hinterlassen, noch kann er so tun, als ob er nicht bemerkt, was um ihn herum passiert. Und er kann nicht darüber hinwegsehen, dass sich jemand in ihn verliebt hat, dass ich mich in ihn verliebt habe. In ihn oder eben in sein, von seiner kleinen Schwester dargestelltes, Ich.
Zweimal in der Woche gebe ich Mira, Levins kleiner Schwester, Nachhilfe in der Rechtschreibung. Dadurch bin ich eben zweimal im Haus der Rieters. Doch in allen Wochen, in all den Malen der Nachhilfe habe ich Levin nicht ein Einziges Mal gesehen. Habe noch nie richtig zu ihm gesprochen, ihn lachen gehört oder gesehen wie seine Augen leuchten. Sicherlich fragst Du dich dann, wie es sein kann, dass ich in eine Illusion verliebt sein kann. Wie aus einem Reflex würde ich sagen, dass das ziemlich einfach zu erklären ist. Ich kenne Levin. Wenn ich am großen Holztisch im Wohnzimmer sitze kann ich auf das große Bild auf der gegenüberliegenden Wandseite blicken. Es zeigt ein ineinander geschlungenes Paar, welches zu einer vorhandenen Musik zu tanzen scheint. Die zarten Bleistiftstriche scheinen das Papier zu streicheln und die sanften rot und braun Töne schwingen in den Spannungen leicht mit. Links unten vom Bild ist unschwer die Unterschrift von Levin zu erkennen. Auf der anderen Wandseite, hinter mir jetzt, hängt ein anderes Bild, welches ebenfalls von Levin gemalt wurde. Es ist chaotisch, wirr und bunt. Die Farben scheinen ohne Sinn und Zweck an das Papier geworfen worden zu sein und doch kommt es mir so vor, als gehörten sie genau dort hin. Als gehörten sie dorthin, wie ein Docht in das Wachs gehört, sodass man eine Kerze erhält. Mein Blick wandert weiter umher, ich versuche alles zu erfassen, mir alles einzuprägen. Auf dem Kaminsims stehen zahlreiche Rahmen voller Bilder der Familie, aber auch andere Bilder. Bilder von idyllischen Orten, Orten zu denen jeder schon mal hin wollte. 
Und diese Orte scheint Levin in den Fokus genommen zu haben. Wasserfälle und grelles Sonnenlicht, welches durch die Baumkronen scheint, buntes Laub und wilder Blumen, Insekten, Vögel und Fremde. All das findet sich auf einem Bild wieder und obwohl es ein wildes Durcheinander zu sein scheint, kehrt beim Betrachten eine gewisse Ruhe und Harmonie ein. Nichts ist überflüssig, alles ist wichtig. Fast bin ich dabei meine Augen zu schließen und mich in Gedanken unter den Strom des Wasserfalls zu stellen. Zu spüren, wie das Wasser auf mich niederprasselt. Doch ich bemerke Miras Blick auf mir haften. Er ist eindringlich und scheint mein Inneres mit nackten Händen zu berühren. „All die Bilder hat Levin gemacht.“, haucht Mira mir zu und ihre Stimme ist zart wie warmer Honig auf heißem Toast. „Er ist ständig mit Etwas beschäftigt, sitzt in seinem Zimmer und malt. Und wenn er dann raus kommt, haben wir ein Weiteres Bild zum Aufhängen.“ Ihre Stimme geht erneut hoch, wenn sie von ihm schwärmt. Ich muss schmunzeln. Ich fühle, wie ich die Liebe zwischen Mira und ihrem Bruder Levin spüre. Sehe Levin vor mir, wie er mit Mira spielt und sie mit Bedacht mit seinen Pinseln malen lässt. Doch ich merke, dass ich kein Bild von Levins Aussehen vor Augen hab. Die Bilder von ihm auf dem Kaminsims erscheinen mir fremd. Sie zeigen mir ein befremdliches Bild von Jemandem, den ich nicht kenne. Das Bild, was ich sehe entspricht nicht meinen Vorstellungen von Levin.

Miras Blick scheint meilenweit weg zu sein, vielleicht in Levins Zimmer, vielleicht auch unter dem Wasserfall. Ihre Rechtsschreibaufgaben brauche ich heute nicht mehr zu kontrollieren, ich weiß, dass sie sie kaum bearbeitetet hat. Aber das nehme ich ihr nicht übel. Vielmehr möchte ich mehr über Levin erfahren. Gespannt und innerlich vor Anspannung zerspringend warte ich auf Miras zarter Stimme. Und wie als wüsste sie, dass ich warte, beginnt sie zu sprechen. Ihre Stimme ist erneut so sanft und dünn, aber keineswegs piepsig, dass es in den Ohren nur so weh tut. Sie befördert mich augenblicklich an andere, fremde Orte, schöne und idyllische. Und obwohl sie nur ihren Bruder beschreibt befinde ich mich fern von ihrem Wohnzimmer, irgendwo an einem Fluss vielleicht, auf einer strahlend grünen Wiese und die Sonne, die glühend heiß auf mich hinab strahlt. Aber ich merke ihre Wärme nicht, vielleicht weil ich mich nur körperliche Dort befinden und meine Wahrnehmungen im Wohnzimmer geblieben sind.

Levin ist ein großgewachsener Junge mit dunkelblondem Haar und hellen, fast schon wilden grünen Augen. Sein Körper gleicht dem eines Athleten, eines Läufers, eines Schwimmers. Der Körper von Jemandem, der nach vorn will, der was erreichen will. Selbst wenn das, was er der Welt bietet seine Kunst ist. Und das ist schon mehr, als was die meisten anderen der Welt bieten können. Mehr als ich bieten kann. Mira erzählt mir, dass Levin nur malt, wenn es dunkel ist und am besten, wenn alle bereits schlafen. Wenn man ihn fragt, wieso er gerade dann so inspiriert ist, sagt er, dass es für ihn wie ein Zustand des Träumens ist. Und dort fühlt er sich eben am wohlsten. Freiheit ist für ihn die Möglichkeit zu Träumen, Träumen in jeglicher Form.
Eine kühle Hand legt sich mir auf die Schulter und holt mich geistlich wieder zurück in die Realität. Ich spüre wie ich mich panisch umschaue und merke erst, wenn ich weiß, wo ich mich befinde, dass ich total außer Atem bin. „Cora, Schatz, eure
Stunde ist schon seit 10 Minuten vorüber. Du kannst natürlich heute länger bleiben, aber Mira hat gleich noch Klavierunterricht und du bestimmt eine Menge für die Schule zu erledigen.“ Ich schaue auf und begegne den Blick von Frau Rieters. Das unsere nur bis 16:00 Uhr ging hatte ich längst vergessen, vielmehr war ich damit beschäftigt gewesen Levins Erscheinungsbild in meinem Gedächtnis zu erstellen und mir zu merken. Auch hatte ich gar nicht gemerkt, wie lange Frau Rieters schon hier stand und seit wann Mira aufgehört hatte zu sprechen. Zügig packe ich alles ein und nehme dabei auch Miras Heft mit, um es zu Hause zu kontrollieren, da dafür in der Stunde keine Zeit war. Da ich dafür keine Zeit haben wollte. Ohne mich noch einmal umzudrehen stürme ich hinaus und die kalte Luft schlägt mir ins Gesicht. Ich lasse den Einzigen Ort, der mir eine gewisse Nähe zu Levin verschafft, hinter mir und kehre zu meiner Illusion zurück.
Am Bahnhof schlage ich Miras Heft auf, um meine Arbeit schon einmal hier, während des Wartens, zu erledigen. Ich blättere hin und her, suche ihre Aufzeichnungen aus der heutigen Stunde und wie aus dem Nichts segelt ein weiß, verzierter Umschlag vor mir auf die Füße. Verdutzt hebe ich ihn auf und sehe wie Jemand meinen Namen ganz groß und mit einem schwarzen dünnen Stift aufgemalt hat. Ich schaue mich um, ob ich dort jemanden sehe, den ich kenne oder der mich kennt. Doch ich entdecke niemanden. Stirnrunzelnd und mit zittrigen Fingern öffne ich den Umschlag und entdecke zuerst den handschriftlichen Brief und daneben noch ein bemaltes Blatt. Ich hatte noch nicht einen Brief bekommen, oder besagt keinen, wo ich nicht wusste von wem der stammt. Noch hat schon mal Jemand für mich was gemalt. Ratlos welchen Zettel ich als erstes raus nehmen soll, schließe ich meine Augen, um blind zu entscheiden. Als ich spüre wie ein Blatt Papier zwischen meinen Fingern raschelt öffne ich meine schmerzenden Augen, die ich fest aufeinander gepresst habe und sehe wie ich mir selbst von der Zeichnung anlächle. Ich blicke genauer hin, um mich zu vergewissern, dass ich dargestellt sein soll. Und doch, ohne Zweifel, das Mädchen soll mich zeigen. Alles scheint zu stimmen, meine schmalen Augen und meine Lippen, an denen an der Oberlippe rechts mehr zu sein scheint. Selbst meine hoch gesteckten Haare passen und die einzelnen Strähnen die zufällig abstehen. Ungläubig suche ich nach etwas, was zeigt, dass nicht ich gemeint bin. Doch ich finde nichts. Plötzlich erkenne ich meine Schönheit, sehe endlich nicht nur das Schlimme und Dunkle an mir. Jemand hat hinter meiner Fassade mehr gesehen. Vorsichtig lege ich die Zeichnung zurück in den Umschlag, ohne dabei vorher die Unterschrift von Levin zu beachten. Schneller als zuvor schon schlägt mein Herz und ich hole den Brief heraus und als ich ihn überfliege, kann ich meinen Augen nicht trauen.


Cora ist ein Mädchen, was man schnell übersieht. Für gewöhnlich trägt sie nichts Auffälliges an sich, sie hat keine bunten Haare, noch einen ungewöhnlichen Kleidungsstil. Sie ist meistens still und ruhig, hört lieber gern zu als laut zu sprechen und sich in den Mittelpunkt zu drängen. Cora scheint Angst davor zuhaben was falsch zu machen, Angst davor entdeckt und erblickt zu werden. Sie will ihre gutdurchdachte Maske nicht fallen lassen. Cora glaubt, dass sie keiner wahrnimmt, dass sie nur umher wandelt und allein ist. Allein zu sein scheint. Denn das ist sie nicht. Ich nehme sie wahr. Am liebsten hab ich es, wenn sie ihre Haare offen trägt, aber wenn sie einen Zopf hat sieht man viel besser ihre Augen. Diese sind dunkel und ihr Blick ist eindringlich. Wenn ich von Mira nicht wüsste, dass sie mich mag, würde ich glauben, dass sie mich gar nicht kennt. Ich schaue sie gerne an, im Schulflur oder in den Pausen. Leise wie ihr Schatten bewege ich mich zu ihr hin und wieder weg. Ich bin unsichtbar und will nicht auffallen, so wie sie es auch nicht will. Aber eins will ich ihr sagen, doch ich traue mich nicht: Cora, ich kenne dich. So wie Du mich kennst. Und ich würde dich gerne zu dem Wasserfall mitnehmen, von dem du ständig träumst, aber ich kann nicht. Ich bin doch in meinem Traum gefangen, du müsstest doch wissen wie das ist. Wenn dich die Stimmen in deinem Kopf dazu zwingen alles was in dir herrscht aufzumalen, aufzuschreiben. Vielleicht irre ich mich auch nur und du weißt nicht wie das ist. Aber gerade dann kannst Du doch zu mir durch dringen. Mich aus den schrecklichen Träumen holen. Ich bin doch nur einen Wimpernschlag von dir entfernt. Cora, ich weiß, dass du das kannst. Und ich weiß ebenfalls, dass du das willst.

Dein Levin

Mit wild pochendem Herzen schaue ich auf, in der Hoffnung, dass Levin wie aus dem Nichts vor mir steht. Doch ich bin allein. Auch drehe ich mich um und blicke hinter mich, um mich zu vergewissern, dass auch mein Schatten zu mir gehört und an seiner Stelle nicht Levin steht. Immer und immer wieder gehe ich seine Worte durch. Dieses ich weiß, dass du das kannst scheint sich nicht nur auf den Kontakt mit ihm zu richten. Plötzlich fühle ich mich stark, es gibt jemanden der an mich glaubt, ohne wirklich zu wissen, was ich mich nicht traue zu tun. Ich hole tief Luft und beschließe gleich morgen früh zu Levin zu fahren. Vielleicht kann ich ihn ja wirklich aus seinem Alptraum rausholen, vielleicht kann er mit mir dann die schönen Dinge im Leben zeichnen und mit mir zu vorhandener Musik tanzen. Ich bin ja schließlich nur einen Wimpernschlag entfernt. Vielleicht.

2. An der Kreuzung



Plötzlich braust ein voller Bus an mir vorbei. Fast tausend geisterhafte Masken scheinen auf mich hinabzublicken, mich jedoch nicht wahrzunehmen. Der eiskalte Wind schmerzt auf meiner Haut und elektrisiert mich. Belebt mich dennoch nicht, weckt mich nicht aus meiner Starre. Die Ampel ist gerade rot geworden. Knapp nur habe ich ihr Grünes Licht verpasst, habe meinen Bus verpasst und selbst mein Leben ist an mir vorbeigegangen ohne eine Spur zu hinterlassen, außer den Schmerz in meinem Herzen. Die Straßenseite hinter der Ampel scheint unglaublich schwer zu erreichen zu sein, kaum erreichbar mit bloßen Schritten. Ich könnte auch einfach hier stehen bleiben, für viele Minuten, vielleicht Stunden. Tage.
 Doch Jonas erwartet mich, wartet auf mich. Gestern konnte ich nicht zu ihm. Vielleicht vermisst er mich schon. Vielleicht. Ach, nein. Lang ist es her, dass mich jemand vermisst hat. Als Jonas noch lebte, habe ich auch noch gelebt. Die Sonne schien aus mir heraus, wie ein warmer Sommertag fühlte sich mein Inneres an. Niemals regnete es und das Leben schien so viel leichter zu sein. Damals, als die vielen Farben des Herbstes nicht nur draußen an den Blättern hingen, sondern auch in meinen Gedanken. Die Zeit schien am Tag von Jonas Tod stehen geblieben und gegensätzlich viel zu schnell vergangen zu sein. Ich bin ja so alt, nein, ich fühle mich alt und unglaublich müde.
Wie lang ist es her, seit ich das letzte Mal durch das Herbstlaub gelaufen bin, sodass es nur so geraschelt hat? Wie lang ist es her, dass ich mich für mich selbst schön gemacht habe? Ein Kleid angehabt habe, einen Hut. Hätte ich heute nur ein Kleid angezogen, würde ich die Kälte durch die dünne Strumpfhose an meinen Beinen spüren. Vielleicht würde ich mich dann lebendiger fühlen. Vielleicht sollte ich mir für die Zukunft mehr Zeit für mich nehmen. Vielleicht aber sollte ich nicht an das Morgen, sondern an das Jetzt denken. Jetzt, wo ich hier an der Ampel stehe und darauf warte zur Haltestelle zu kommen, um zum Friedhof zu fahren. Meinen verstorbenen Ehemann zu besuchen. Oder doch mein verstorbenes Ich?
Wer hätte gedacht, dass meine Zukunft aus einem nie endenden Warten besteht. Das Warten auf die ewige Stille und die Freiheit. Wär ich doch nur ein Vogel. Mit Flügeln, die einen hinweg tragen. Weg von all den unschönen Tagen. Ob es ein Fehler war so früh zu heiraten? Ein Fehler bedingungslos zu lieben und geliebt zu werden? Ob ich all das, was war bereuen sollte? Ich weiß es nicht.
 Ich könnte ja mit dem Bus einfach irgendwohin fahren oder gar nicht einsteigen. Einfach so lange weiter gehen, bis ich müde werde. Bis ich so müde werde, dass ich aus purer Müdigkeit einschlafe und nicht mehr aus Trauer und Einsamkeit. Vielleicht verpasse ich auch diesen Bus und kann nicht zurück in meine Vergangenheit reisen, in das längst verstorbene Gut.
Die Ampel wird grün. Weiter in die Trauer gehen oder zurück ins Leben? Augen schließen und die Füße machen lassen. Vielleicht finden sie den richtigen Weg.
Vielleicht.